Die Diskussion rund um die Testosteronersatztherapie (TRT) ist in den letzten Jahren intensiver geworden. Neue große randomisierte Studien, Registeranalysen und mechanistische Arbeiten liefern zunehmend differenzierte Antworten zu Nutzen, Risiken und Limitationen. Im Folgenden werden die wichtigsten aktuellen Studien strukturiert und kritisch zusammengefasst – jeweils eine Studie pro Abschnitt.
1. Curcumin und orale Testosteron-Bioverfügbarkeit (Drug Metab Dispos 2025)
Fragestellung:
Kann Curcumin die Bioverfügbarkeit von oralem Testosteron-Undecanoat (TU) verbessern?
Design & Methodik:
- In-vitro-Studien (human intestinale Mikrosomen, LS180-Zellen, primäre Enterozyten)
- Pilot-Crossover-Studie bei Männern mit experimentellem Hypogonadismus
Zentrale Ergebnisse:
- Curcumin hemmt das intestinale Enzym UGT2B17 (IC50 ca. 58 µM)
- Reduktion der Glucuronidierung von Testosteron um ca. 50 %
- In der Pilotstudie:
- AUC₁–₆h +50 %
- Cmax +80 % bei gleichzeitiger Gabe von Curcumin
Klinische Einordnung:
- Mechanistisch plausibler Ansatz zur Reduktion interindividueller Variabilität oraler TRT
- Noch keine Daten zu Langzeitsicherheit, Dosis-Wirkungs-Beziehung oder Interaktionen
Limitationen:
- Kleine klinische Stichprobe
- Keine klinischen Endpunkte
2. Leukozytenveränderungen und Thromboembolierisiko – TRAVERSE (Am Heart J 2025)
Fragestellung:
Sind TRT-induzierte Veränderungen von Leukozyten mit thromboembolischen Ereignissen assoziiert?
Design:
- Subanalyse der TRAVERSE-Studie
- 5.204 Männer, 45–80 Jahre, hohes kardiovaskuläres Risiko
- Transdermales Testosteron vs. Placebo, bis zu 5 Jahre
Ergebnisse:
- TRT führte zu:
- ↑ Neutrophilen
- ↑ Monozyten
- ↓ Lymphozyten
- ↓ Thrombozyten
- Assoziation mit VTE:
- Neutrophile: OR 1,32 pro SD
- Monozyten: OR 1,39 pro SD
Interpretation:
- Entzündliche Zellpopulationen könnten Teil des prothrombotischen Signals sein
- Effekt unabhängig von Hämatokrit
Klinische Relevanz:
- Blutbildveränderungen sollten in die individuelle Risikobewertung einbezogen werden
- Ergänzt klassische Überwachung von Hämatokrit und PSA
3. Testosteron-Gel und ambulante Blutdruckwerte (Andrology 2025)
Fragestellung:
Beeinflusst transdermales Testosteron den 24-h-Blutdruck?
Design:
- Single-arm-Non-Inferiority-Studie
- 246 Männer, 16 Wochen Testosteron-Gel 1,62 %
Ergebnisse:
- Mittlerer Anstieg des 24-h-SBP: +1,9 mmHg
- Oberes Konfidenzintervall knapp über der Non-Inferiority-Schwelle
- Größere Effekte tagsüber
- Keine neuen kardiovaskulären Sicherheitssignale
Einordnung:
- Geringe Blutdruckveränderungen wahrscheinlich klinisch wenig relevant
- Relevanter bei Patienten mit Hypertonie oder Diabetes
4. Transdermales Testosteron und Blutdruck (Endocrine Practice 2024)
Design:
- Single-arm-Non-Inferiority-Studie
- 168 Männer, 16 Wochen Testosteron-Pflaster
Ergebnisse:
- 24-h-SBP +3,5 mmHg
- Non-Inferiority-Kriterium formal nicht erfüllt
- Keine schweren kardiovaskulären Ereignisse
Bewertung:
- Leichte Blutdruckerhöhung möglich
- Klinische Relevanz gering, aber Monitoring sinnvoll
5. TRT plus Lebensstilintervention bei älteren adipösen Männern (JCEM 2025)
Design:
- Randomisierte, placebokontrollierte Studie
- Männer ≥65 Jahre, Adipositas, Hypogonadismus
- Lebensstilintervention ± TRT, 6 Monate
Ergebnisse:
- HbA1c-Reduktion identisch in beiden Gruppen
- TRT:
- Kein zusätzlicher metabolischer Nutzen
- Abschwächung des HDL-Anstiegs
- Abnahme von Adiponectin
Schlussfolgerung:
- TRT verstärkt Lifestyle-Effekte nicht
- Mögliche Neutralisierung günstiger metabolischer Anpassungen
6. Insulinresistenz und metabolisches Syndrom – Moscow Study (DOM 2024)
Design:
- Randomisierte, placebokontrollierte Studie mit Open-Label-Phase
- 184 Männer mit MetS und Hypogonadismus
Ergebnisse:
- Signifikante Reduktion von HOMA-IR unter TU
- Größere Effekte bei höherem Ausgangs-HOMA-IR
- Glukose ↓, Insulin ↓ deutlich
Klinische Bedeutung:
- Hypogonadismus als therapeutisches Ziel bei MetS
- Effekt besonders relevant bei insulinresistenten Patienten
7. Depression und TRT – TRAVERSE Subanalyse (JCEM 2024)
Design:
- Subanalyse von 5.204 Männern
- Erfassung depressiver Symptome
Ergebnisse:
- Klinisch relevante depressive Störungen selten
- TRT führte zu:
- Leichter Verbesserung von Stimmung und Energie
- Kein Effekt auf Schlaf oder Kognition
Interpretation:
- TRT kein Antidepressivum
- Kann bei ausgewählten Patienten unterstützend wirken
8. Prostata-Sicherheit – Randomisierte Studie (JAMA Netw Open 2023)
Design:
- 5.246 Männer, bis 3 Jahre Follow-up
- TRT vs. Placebo
Ergebnisse:
- Kein Anstieg:
- Hochgradiger Prostatakarzinome
- Gesamt-PCa-Inzidenz
- Prostata-bezogener Mortalität
- PSA stieg moderat an
Klinische Relevanz:
- Entkräftet zentrale onkologische Sicherheitsbedenken
- Gilt für sorgfältig gescreente Patienten
9. Registerdaten aus Finnland – Mortalität und Prostata (Acta Oncol 2023)
Design:
- 78.615 Männer, Follow-up 18 Jahre
Ergebnisse:
- Keine erhöhte PCa-Inzidenz unter TRT
- Niedrigere PCa- und Gesamtmortalität bei TRT-Nutzern
Limitationen:
- Beobachtungsstudie
- Kein Testosteronspiegel im Verlauf
10. Anämie und TRT – TRAVERSE-Substudie (JAMA Netw Open 2023)
Ergebnisse:
- TRT:
- Korrigierte Anämie signifikant häufiger
- Reduzierte Neuauftreten von Anämie
- Hb-Anstieg korrelierte mit Energielevel
Klinische Bedeutung:
- Relevanter Nutzen bei hypogonadalen Männern mit Anämie
11. Sexualfunktion und Hypogonadismus (JCEM 2024)
Ergebnisse:
- TRT:
- ↑ sexuelle Aktivität
- ↑ Libido
- ↑ hypogonadale Symptome
- Kein signifikanter Effekt auf erektile Funktion
12. Kardiovaskuläre Sicherheit – TRAVERSE (NEJM 2023)
Primäres Ergebnis:
- TRT nicht unterlegen gegenüber Placebo bzgl. MACE
Auffälligkeiten:
- ↑ Vorhofflimmern
- ↑ Lungenembolien
- ↑ akutes Nierenversagen
Interpretation:
- Gesamt-CV-Risiko neutral
- Einzelne Risiken erfordern Überwachung
Gesamtfazit
Die aktuelle Evidenz zeigt ein differenziertes Bild:
- Klarer Nutzen: Sexualfunktion, Anämie, Symptome des Hypogonadismus
- Neutral bis moderat positiv: Metabolik bei insulinresistenten Patienten
- Kein erhöhtes Krebsrisiko bei adäquatem Screening
- Aufmerksamkeit erforderlich: Thromboserisiko, Blutdruck, individuelle Entzündungsmarker
Eine moderne TRT erfordert daher individualisierte Indikationsstellung, strukturierte Verlaufskontrollen und realistische Zieldefinitionen.
