Wenn (fast) alle krank sind – Überdiagnostik in der modernen Medizin

Wie viel Diagnostik ist eigentlich zu viel? Diese Frage stellt sich der niederländische Raad voor Volksgezondheid en Samenleving (RVS) in seinem aktuellen Bericht „Iedereen bijna ziek“ („Fast alle krank“). Der Bericht beleuchtet kritisch, wie technische Entwicklungen, Risikovermeidung und gesellschaftlicher Druck zu einer diagnostischen Expansion führen – mit zum Teil gravierenden Folgen für Individuen und das Gesundheitssystem.

🔬 Diagnose-Expansion: Wenn die Suche zur Gefahr wird

Dank moderner Technik können wir heute Krankheiten früher erkennen als je zuvor – oder zumindest Abweichungen davon. Aber das hat seinen Preis: Immer mehr Menschen bekommen Diagnosen für Zustände, die nie zu Symptomen oder Gesundheitsproblemen geführt hätten. Der RVS spricht in diesem Zusammenhang von „diagnose-expansie“ – einer Entwicklung, bei der immer mehr Tests eingesetzt werden, immer früher, und oft ohne klare medizinische Notwendigkeit.

⚠️ Die Schattenseiten der Früherkennung

„Früher erkannt, besser behandelt“ – diese Logik klingt plausibel. Doch in der Realität entstehen zahlreiche Nebenwirkungen:

  • Falsch-positive Befunde: Sie erzeugen Angst, führen zu weiteren Untersuchungen und unter Umständen zu unnötigen Behandlungen.
  • Überdiagnosen: Krankheiten werden benannt, die niemals symptomatisch geworden wären – wie z. B. präklinische Alzheimer-Diagnosen oder langsame Tumorformen.
  • Überlastung des Systems: Zeit, Geld und Personal werden für wenig nützliche Diagnostik gebunden – zulasten wirklich kranker Patienten.
  • Verlagerung der Aufmerksamkeit: Statt Ursachen im sozialen oder psychologischen Umfeld zu suchen, fokussieren sich Patienten und Ärzte auf Laborwerte und Bilder.

🤯 Die psychologischen Folgen

Das niederländische Gutachten spricht von einem Nocebo-Effekt: Die Diagnose selbst kann krank machen – etwa wenn eine harmlose Anomalie auf dem MRT als bedrohlich wahrgenommen wird. Besonders problematisch: Menschen interpretieren Gesundheitsdaten ohne Kontext, oft bereits bevor der Arzt sie erklärt hat.

💰 Markt und Medizin: Ein gefährliches Bündnis?

Nicht nur Ärzte, auch kommerziell orientierte Anbieter drängen auf immer mehr Diagnostik: Vitamin-Checks beim Drogeriemarkt, Ganzkörper-Scans als Lifestyle-Angebot, Alzheimer-Risiko-Tests ohne therapeutische Konsequenz. Der RVS warnt: Diese Form von Gesundheit als Konsumgut führt zu einer Pathologisierung des Alltags – und zu medizinischer Überversorgung.

🧭 Ein neuer Kompass für gute Versorgung

Der Bericht fordert ein radikales Umdenken – weg von der Devise „Mehr ist besser“ hin zu einer reflektierten Haltung. Die Kernbotschaft:

Nicht jede Diagnose bringt Nutzen – aber viele bringen Schaden.

Der RVS ruft Politik, Ärzteschaft und Öffentlichkeit dazu auf, stärker zwischen sinnvollen und unnötigen Untersuchungen zu unterscheiden. Stichwort: passende Versorgung. Es braucht Mut zur Lücke – und die Bereitschaft, medizinische Zurückhaltung nicht als Versagen, sondern als Fürsorge zu verstehen.


🔎 Fazit: Der niederländische Bericht ist ein Weckruf. Er zeigt, dass medizinischer Fortschritt immer auch kritisch begleitet werden muss – um zu verhindern, dass wir in der Suche nach Krankheit das Wesentliche aus dem Blick verlieren: den Menschen selbst.

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