Immer häufiger wird bei Männern mit Übergewicht oder Adipositas ein erniedrigter Testosteronwert festgestellt. Viele Betroffene berichten gleichzeitig über Symptome wie Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Libidoverlust, erektile Dysfunktion oder Schwierigkeiten beim Abnehmen. Die naheliegende Diagnose scheint klar: Testosteronmangel. Doch so einfach ist es nicht.
Eine aktuelle Übersichtsarbeit im Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism (2025) zeigt, dass in den meisten Fällen kein echter Hypogonadismus vorliegt, sondern ein reversibles, durch Übergewicht bedingtes Phänomen: der sogenannte Pseudo-Hypogonadismus der Adipositas.
Was passiert im Körper bei Adipositas?
Adipositas wirkt sich auf viele Hormonsysteme aus, auch auf das Testosteron. Entscheidend ist dabei:
- Reduktion von SHBG (Sexualhormon-bindendes Globulin):
SHBG ist das Transportprotein, das Testosteron im Blut bindet. Übergewicht und Insulinresistenz führen zu einer deutlichen Absenkung von SHBG. Dadurch sinkt auch der gemessene Gesamt-Testosteronwert – obwohl die Hoden weiter normal arbeiten. - Normale LH- und FSH-Werte:
Im Gegensatz zu echtem Hypogonadismus bleiben die Steuerhormone der Hypophyse (LH und FSH) im Normbereich. Sie wirken wie „Androgensensoren“ des Körpers und zeigen, dass eine eugonadale Situation vorliegt. - Reversibilität:
Die Veränderungen sind kein struktureller Schaden der Hoden oder Hypophyse. Mit Gewichtsreduktion und Therapie von Begleiterkrankungen (z. B. Diabetes, Schlafapnoe) normalisieren sich die Werte meist wieder.
Daher sprechen Experten von einem funktionellen, nicht-pathologischen Hypogonadismus.
Symptome: Täuschend ähnlich zu echtem Testosteronmangel
Viele Männer mit Übergewicht berichten über Symptome, die auch bei echtem Hypogonadismus auftreten können:
- Erschöpfung und Energieverlust
- Libido- und Potenzstörungen
- depressive Verstimmung
- Abnahme von Muskelmasse, schlechtere Regeneration
Das Problem: Diese Beschwerden sind unspezifisch. Sie können ebenso gut Folge von Adipositas, Schlafapnoe, Diabetes, Depressionen oder Bluthochdruck sein – nicht von einem primären Testosteronmangel.
Risiken einer vorschnellen Testosterontherapie
Trotz fehlender Indikation wird Testosteron oft verschrieben. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Verschreibung von Testosteronpräparaten weltweit fast verhundertfacht – meist ohne gesicherte Diagnose.
Doch: Eine unnötige Testosterontherapie ist nicht harmlos.
- Unterdrückung der körpereigenen Produktion: Exogenes Testosteron blockiert die Hormonachse. Nach Absetzen dauert es Monate bis Jahre, bis die Eigenproduktion wieder einsetzt – manchmal nie.
- Unfruchtbarkeit: Durch Hemmung der Spermatogenese.
- Erhöhte Blutviskosität und Thromboserisiko.
- Androgenabhängigkeit: Manche Männer geraten in eine Art „Teufelskreis“ – ohne externe Gabe fühlen sie sich energielos und greifen erneut zu Testosteron.
Die Nebenwirkungen übersteigen die potenziellen Vorteile deutlich, wenn kein echter Hypogonadismus vorliegt.
Der wirksame Weg: Gewichtsabnahme
Die Studie zeigt eindrucksvoll: Abnehmen ist die effektivste Therapie.
- Schon eine moderate Gewichtsabnahme verbessert die Testosteronwerte signifikant.
- Lebensstilinterventionen wie Ernährungsumstellung und Bewegung steigern Testosteron proportional zum verlorenen Gewicht.
- Bariatrische Chirurgie führt zu raschen und nachhaltigen Verbesserungen, wenngleich nicht ohne Risiken für die Fertilität.
- Moderne Medikamente (z. B. GLP-1-Agonisten wie Semaglutid) helfen zusätzlich, Gewicht zu reduzieren und Testosteron zu normalisieren.
Praxisbeispiel
Ein 37-jähriger Patient mit Adipositas (BMI 36) und Symptomen wie Müdigkeit und Libidoverlust hatte einen Testosteronwert von 147 ng/dl – deutlich unterhalb der Norm. Statt einer sofortigen Testosterontherapie erhielt er Ernährungsberatung, Bewegungstherapie und später Semaglutid. Nach 12 Monaten hatte er 24 kg abgenommen, Blutdruck und Blutzucker normalisierten sich – und sein Testosteron stieg auf 467 ng/dl, also in den gesunden Bereich. Ganz ohne externe Hormone.
Fazit
- Ein niedriger Testosteronwert bei Adipositas bedeutet meist kein Hypogonadismus, sondern ist Folge des Übergewichts.
- Testosterontherapie ist hier nicht indiziert – und kann schaden.
- Lebensstiländerungen und Gewichtsreduktion sind der Schlüssel zur Normalisierung der Hormonwerte.
👉 Für Männer mit Übergewicht und erniedrigtem Testosteron gilt daher: Zuerst Gewicht reduzieren, erst danach die Werte neu bewerten. Nur wenn ein echter Hypogonadismus vorliegt (nachweisbar durch spezielle Diagnostik), ist eine lebenslange Testosterontherapie sinnvoll.