
Wir leben in einer Zeit des medizinischen Fortschritts, die unsere Vorfahren nicht einmal erahnen konnten. Dank Impfungen sind Krankheiten wie Polio und Masern, die einst verheerende Epidemien verursachten, weitgehend verschwunden oder zumindest beherrschbar geworden. Dennoch stehen wir heute vor einem Phänomen, das für viele Wissenschaftler und Mediziner absurd erscheint: Der Rückgang der Impfbereitschaft inmitten eines nie dagewesenen medizinischen Wohlstands. Man könnte es die Impfparadoxie nennen.
Je erfolgreicher Impfungen darin sind, Krankheiten zurückzudrängen, desto weniger Menschen sind sich der Gefahr dieser Krankheiten bewusst. Der Schrecken der Pocken, die Kinderlähmung, die viele Leben gezeichnet hat – all diese Gräuel sind für die jüngeren Generationen bestenfalls Anekdoten aus alten Lehrbüchern. Für viele ist das Bild der Gefahr verblasst, und mit ihm auch die Dringlichkeit, sich gegen diese Bedrohungen zu schützen. Warum sich impfen lassen, wenn die Gefahr nicht sichtbar ist?
Diese trügerische Sicherheit führt uns direkt in die Arme der Desinformation. Wer noch nie die Folgen einer Masernerkrankung erlebt hat, ist anfälliger für das Gift der Impfgegner: Gerüchte, Mythen und Verschwörungstheorien finden in einer Gesellschaft ohne unmittelbare Bedrohung durch Infektionskrankheiten fruchtbaren Boden. Plötzlich scheint der kleine Piks, der uns ein Leben lang schützt, eine weit größere Bedrohung darzustellen als die Krankheiten, die er verhindern soll.
Die Impfparadoxie ist eine der bittersten Ironien unserer Zeit. Der Wohlstand, der uns vor den Seuchen vergangener Jahrhunderte schützt, sorgt dafür, dass wir die Notwendigkeit dieses Schutzes nicht mehr erkennen. Das Ergebnis ist fatal: Masernausbrüche in Schulen, verunsicherte Eltern und ein Gesundheitssystem, das Gefahr läuft, seine wichtigste Waffe gegen Seuchen zu verlieren – das Vertrauen der Bevölkerung.
Vielleicht braucht es wieder eine Krise, um uns wachzurütteln. Ein Alarmruf, der uns daran erinnert, dass diese Krankheiten nicht verschwunden sind, sondern nur in Schach gehalten werden. Nur durch einen entschlossenen Schulterschluss, durch Aufklärung und gemeinschaftliche Verantwortung, können wir verhindern, dass wir von unserer eigenen Selbstgefälligkeit überrollt werden.