Der altersbedingte Abbau von Muskelmasse – die sogenannte Sarkopenie – ist ein wachsendes Problem in der geriatrischen Medizin. Gerade ältere Menschen, die körperlich inaktiv sind, etwa durch Bettlägerigkeit, chronische Erkrankungen oder eingeschränkte Mobilität, verlieren besonders schnell an Muskelmasse und -kraft. Die logische Idee: Eiweißsupplemente könnten helfen. Doch was sagt die Evidenz?
🔍 Was wurde untersucht?
Eine neue systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse (Zhang et al., 2025) untersuchte, ob Proteinpräparate bei älteren, inaktiven Menschen tatsächlich Muskelmasse, Muskelkraft und körperliche Leistungsfähigkeit verbessern können. Analysiert wurden 8 Datensätze aus 6 randomisiert-kontrollierten Studien mit insgesamt 214 Teilnehmern.
⚖️ Die Ergebnisse im Überblick
- Muskelmasse: Keine signifikanten Effekte. Weder die Gesamtkörper-Magermasse noch spezifische Regionen wie Beine oder Arme profitierten eindeutig von der Eiweißgabe.
- Muskelkraft: Unterschiedliche Ergebnisse. Einzelne Studien zeigten leichte Verbesserungen (v. a. in Kombination mit Training), andere hingegen keine signifikanten Effekte.
- Körperliche Leistungsfähigkeit: Auch hier uneinheitliche Resultate. Manche Studien berichteten positive Effekte in Tests wie dem „Timed Up and Go“ oder dem „Chair Stand Test“, andere zeigten keine Unterschiede zur Kontrollgruppe.
🧠 Warum wirkt Eiweiß nicht so, wie man es erwartet?
Ein zentrales Problem ist die sogenannte anabole Resistenz. Ältere Menschen reagieren weniger effektiv auf die muskelaufbauende Wirkung von Eiweiß – sie benötigen häufig höhere Dosen oder hochwertigeres Eiweiß (z. B. reich an Leucin), um eine vergleichbare Wirkung wie jüngere Personen zu erzielen.
Zudem spielt der Ernährungszustand, die Art des Proteins, die Dosierung und auch der Zeitpunkt der Einnahme eine große Rolle – all diese Parameter waren in den Studien sehr unterschiedlich.
🏥 Relevanz für die klinische Praxis
Für Ärzt:innen und Pflegekräfte ist klar: Der Muskelverlust bei älteren, bettlägerigen oder multimorbiden Patienten hat gravierende Konsequenzen – von Stürzen über verlängerte Rehabilitationszeiten bis hin zu erhöhter Mortalität. Die neue Evidenz zeigt jedoch, dass Eiweiß allein in dieser Bevölkerungsgruppe nicht ausreicht, um dem Muskelabbau signifikant entgegenzuwirken.
💡 Fazit
Proteinpräparate können, müssen aber nicht helfen. Ihre Wirkung scheint stark von Kontextfaktoren abzuhängen. Deshalb ist eine individuelle, ganzheitliche Herangehensweise gefragt – mit Fokus auf:
- ausreichende Proteinzufuhr (mind. 1.2–1.5 g/kg/Tag bei kranken Älteren),
- hochwertige Proteinquellen (z. B. Molke, EAA-reich),
- gegebenenfalls Kombination mit anderen Nährstoffen (z. B. Omega-3, Polyphenole),
- und – sofern möglich – begleitendes körperliches Training.
Für viele bettlägerige Senior:innen bleibt jedoch die größte Herausforderung bestehen: der Mangel an Bewegung. Hier könnten neue Therapieformen wie Elektrostimulation oder gezielte Rehabilitationsprogramme in Kombination mit Ernährung eine vielversprechende Zukunft darstellen.