Einleitung
Krebs ist eine komplexe Erkrankung, die sowohl durch Umweltfaktoren (z. B. Rauchen, Ernährung, Infektionen) als auch durch genetische Einflüsse bestimmt wird. Während einzelne Hochrisiko-Mutationen (wie BRCA1/2 bei Brust- und Eierstockkrebs) bereits gut untersucht sind, gibt es daneben tausende kleine genetische Varianten, die jede für sich nur wenig Einfluss haben, in Summe jedoch das Risiko stark verändern können.
Ein modernes Werkzeug, um diesen Effekt zu messen, sind Polygenic Risk Scores (PRS). Sie verdichten die Information aus hunderten oder tausenden Genvarianten zu einem individuellen Risikoprofil. Genau hier liegt die Zukunft der Onkologie: Mit PRS können wir präziser vorhersagen, wer ein erhöhtes Krebsrisiko trägt – und daraus maßgeschneiderte Screening- und Präventionsstrategien entwickeln.
Was ist ein Polygenic Risk Score (PRS)?
Ein PRS funktioniert wie eine genetische Checkliste:
- Für jede relevante Genvariante (SNP, „single nucleotide polymorphism“) wird geprüft, ob sie beim Patienten vorliegt.
- Jede Variante trägt ein kleines „Gewicht“ (wie stark sie das Risiko beeinflusst).
- Am Ende ergibt die Summe dieser Gewichte den individuellen Score.
Das bedeutet:
- Personen mit hohem PRS haben ein deutlich überdurchschnittliches Risiko für bestimmte Krebsarten.
- Menschen mit niedrigem PRS liegen deutlich unter dem Bevölkerungsdurchschnitt und erkranken seltener.
Anwendung in der Krebsmedizin
1. Brustkrebs
- Frauen mit hohem PRS erreichen das Risiko einer durchschnittlichen Frau bereits 10 Jahre früher.
- Konsequenz: Sie könnten früher zur Mammographie eingeladen werden – z. B. mit 35–40 statt erst mit 50.
- Frauen mit niedrigem PRS könnten dagegen später oder seltener untersucht werden, ohne ein höheres Risiko einzugehen.
2. Darmkrebs (Kolorektales Karzinom, CRC)
- Studien zeigen, dass Personen im oberen PRS-Dezil ein 3- bis 4-fach erhöhtes Risiko für Darmkrebs haben.
- Hier könnte das Screening (Koloskopie) schon ab 40 Jahren beginnen.
- Menschen mit niedrigem PRS könnten das Screening hingegen erst mit 60 beginnen, ohne Nachteile.
- Damit wird Prävention zielgerichteter und effizienter – Koloskopien werden dort eingesetzt, wo sie am meisten Nutzen bringen.
3. Prostatakrebs
- Für Männer gibt es bisher keine standardisierten Screenings (PSA-Test ist umstritten).
- Ein hoher PRS könnte jedoch die Gruppe identifizieren, die am meisten von PSA-Screenings profitiert.
- Männer mit niedrigem PRS könnten dagegen unnötige Tests und Biopsien vermeiden.
4. Hautkrebs (Melanom)
- PRS könnte helfen, Menschen mit besonders hohem Risiko (z. B. aufgrund genetischer Varianten + UV-Exposition) zu erkennen.
- Diese Gruppe könnte gezielt zu regelmäßigen Hautchecks eingeladen werden.
Kombination mit Lebensstilfaktoren
Genetik ist nicht alles. Auch bei hoher genetischer Belastung kann ein gesunder Lebensstil das Risiko deutlich senken.
- Bei Darmkrebs: Nichtrauchen, ballaststoffreiche Ernährung, Bewegung.
- Bei Brustkrebs: Verzicht auf Alkohol, normales Körpergewicht.
- Bei Lungenkrebs: Rauchstopp übertrifft jedes genetische Risiko.
👉 PRS ist also kein Schicksal, sondern ein Werkzeug zur Risikoeinschätzung. Entscheidend bleibt die Kombination aus Genetik und Verhalten.
Chancen für die Onkologie
- Präzises Screening
- Hochrisikopersonen: früher, enger, intensiver.
- Niedrigrisikopersonen: später, weniger belastend.
- Ergebnis: weniger Überdiagnosen, bessere Ressourcennutzung.
- Bessere Prävention
- PRS kann als Motivationshilfe dienen: Wer sein genetisch hohes Risiko kennt, ändert eher seinen Lebensstil.
- Klinische Studien
- Mit PRS können Patientengruppen homogener definiert werden.
- Das verbessert die Aussagekraft von Studien und die Entwicklung neuer Therapien.
Herausforderungen
- Ethnische Verzerrungen: Die meisten PRS sind auf Basis europäischer Daten entwickelt – ihre Vorhersagekraft ist bei anderen Bevölkerungsgruppen oft geringer.
- Standardisierung: Noch fehlen Leitlinien, wie PRS in Screeningprogramme integriert werden sollen.
- Kommunikation: Ärzt:innen müssen Patienten verständlich erklären, dass ein hohes Risiko nicht automatisch bedeutet, dass Krebs entsteht – sondern eine Wahrscheinlichkeit beschreibt.
Fazit
Polygenic Risk Scores sind ein mächtiges Werkzeug für die Krebsprävention. Sie können:
- Risikogruppen sichtbar machen,
- Screening und Vorsorge personalisieren,
- und zusammen mit Lebensstilfaktoren neue Wege für Prävention und Therapie eröffnen.
Die Zukunft der Onkologie liegt in einer individualisierten Präventionsmedizin: Nicht das Alter allein entscheidet über Vorsorgeuntersuchungen, sondern das genetische Risiko – und damit ein maßgeschneiderter, präziser und effizienter Ansatz zur Krebsbekämpfung.