Darmkrebs-Risiko besser verstehen: Genetik trifft Lebensstil

Einleitung

Darmkrebs gehört weltweit zu den häufigsten Krebserkrankungen – 2020 wurden rund 1,8 Millionen neue Fälle und fast 900.000 Todesfälle registriert. Neben bekannten Risikofaktoren wie Ernährung, Bewegungsmangel oder Rauchen spielt auch die genetische Veranlagung eine bedeutende Rolle. Doch wie stark beeinflussen Gene tatsächlich das Erkrankungsrisiko? Und lässt sich ein hohes genetisches Risiko durch einen gesunden Lebensstil ausgleichen?

Eine aktuelle Studie von Xin et al. (Genome Medicine, 2023) liefert spannende Antworten. Sie untersuchte, wie sich genetische Risikoprofile – sogenannte Polygenic Risk Scores (PRS) – mit Lebensstilfaktoren kombinieren lassen, um das individuelle Darmkrebsrisiko präziser abzuschätzen.


Was ist ein Polygenic Risk Score (PRS)?

Ein PRS fasst die Wirkung vieler kleiner genetischer Varianten zusammen, die das Krankheitsrisiko beeinflussen. Jede einzelne Genveränderung trägt nur minimal zum Risiko bei, doch zusammengenommen entsteht ein aussagekräftiger Score.

Das Problem bisher: Die meisten PRS-Modelle wurden anhand von europäischen Bevölkerungsdaten entwickelt. Überträgt man sie auf andere Ethnien, zum Beispiel ostasiatische Populationen, verlieren sie deutlich an Vorhersagekraft.


Studiendesign

Die Forscher analysierten Daten von insgesamt:

  • 35.145 Darmkrebspatienten und 288.934 gesunden Kontrollen (aus Europa und Ostasien).
  • Ergänzende Validierung in unabhängigen Datensätzen aus China, Japan und Österreich.
  • Langzeit-Überprüfung im UK Biobank-Kollektiv (über 355.000 Personen, Beobachtungszeit ~8 Jahre).

Neben der genetischen Analyse wurden acht Lebensstilfaktoren bewertet:

  • Body-Mass-Index
  • Rauchstatus
  • Alkoholkonsum
  • Taille-Hüft-Verhältnis
  • Körperliche Aktivität
  • Sitzende Lebensweise
  • Konsum von rotem und verarbeitetem Fleisch
  • Obst- und Gemüseaufnahme

Jeder dieser Faktoren floss in einen Lifestyle-Score ein (günstig vs. ungünstig).


Zentrale Ergebnisse
1. Neuer trans-ethnischer PRS (PRS-CSx)
  • Ein neu entwickelter Score, basierend auf über 1,1 Millionen Genvarianten, zeigte die beste Vorhersagekraft für beide Bevölkerungsgruppen.
  • Im Vergleich zu bisherigen Modellen funktionierte er deutlich besser auch bei Ostasiaten, wo klassische PRS bisher versagten.
2. Genetik bestimmt Risiko – aber in Abstufungen
  • Personen mit hohem genetischem Risiko hatten ein 3,9-fach erhöhtes Risiko, an Darmkrebs zu erkranken.
  • Schon ein mittleres Risiko verdoppelte die Wahrscheinlichkeit im Vergleich zu Menschen mit niedrigem PRS.
3. Lebensstil wirkt als „Schutzschild“
  • Ein gesunder Lebensstil reduzierte das Risiko in allen genetischen Gruppen.
  • Besonders eindrücklich:
    • Bei Menschen mit hohem genetischem Risiko lag das 5-Jahres-Risiko für Darmkrebs bei 1,07 %.
    • Mit gesunden Gewohnheiten sank es auf 0,54 % – eine Risikoreduktion um 50 %.
  • Nichtrauchen, regelmäßige Bewegung und ausgewogene Ernährung erwiesen sich als besonders protektiv.
4. Kein fatalistischer „Gen-Effekt“

Die Studie zeigte, dass sich Gene und Lebensstil additiv, nicht aber verstärkend beeinflussen. Das bedeutet: Auch wer eine hohe genetische Belastung hat, kann durch gesunde Gewohnheiten sein Risiko spürbar senken.


Praktische Bedeutung
  1. Personalisierte Vorsorge
    • Mit Hilfe des PRS lassen sich Risikogruppen genauer identifizieren.
    • Personen mit hohem Risiko könnten von intensiverer Darmkrebsfrüherkennung (z. B. häufigere Koloskopien) profitieren.
  2. Lebensstil bleibt Schlüssel
    • Die Daten unterstreichen, dass Prävention wirkt – selbst bei hoher genetischer Disposition.
    • Ärzte können Patienten durch konkrete Empfehlungen (Ernährung, Bewegung, Rauchstopp) motivieren.
  3. Digitales Tool für Risikoabschätzung
    • Die Forscher entwickelten ein frei zugängliches Web-Tool (CRC-RPS), das auf Basis genetischer Daten und Lebensstilfaktoren das 5-Jahres-Risiko berechnet.
    • So können auch Laien einen Eindruck von ihrem individuellen Risiko gewinnen.

Fazit

Die Studie zeigt eindrücklich: Genetik ist kein Schicksal. Zwar bestimmt das Erbgut das Ausgangsrisiko für Darmkrebs, doch durch einen konsequent gesunden Lebensstil lässt sich selbst ein hohes genetisches Risiko deutlich abmildern.

Für die Zukunft bedeutet das:

  • Polygenic Risk Scores können helfen, Risikogruppen präziser zu identifizieren.
  • In Kombination mit klassischer Vorsorge eröffnen sie neue Möglichkeiten der personalisierten Präventionsmedizin.
  • Gleichzeitig bleibt die zentrale Botschaft klar: Jeder Mensch kann durch sein Verhalten Einfluss nehmen.
Was die Forschung zeigt
  • Hoher genetischer Score (PRS): Bis zu 3,9-fach höheres Risiko für Darmkrebs.
  • Lebensstil als Schutz: Gesunde Gewohnheiten (Nichtrauchen, Sport, viel Gemüse, wenig rotes Fleisch) können das Risiko halbieren – selbst bei hoher genetischer Belastung.
  • 5-Jahres-Risiko:
    • Hochrisiko + ungesunder Lebensstil: 1,07 %
    • Hochrisiko + gesunder Lebensstil: 0,54 %

Konkrete Szenarien für die Vorsorge
1. Der Hochrisiko-Fall

Beispiel: Ein 42-jähriger Mann, Nichtraucher, aber mit hohem PRS (oberste 10 %).

  • Sein Risiko ist bereits so hoch wie das eines durchschnittlichen 55-Jährigen.
  • Empfehlung: Screening 10–15 Jahre früher beginnen (z. B. ab 40), Koloskopie-Intervalle eher verkürzen (z. B. alle 5 Jahre statt 10).
2. Der Lebensstil-Kompensator

Beispiel: Eine 50-jährige Frau mit mittlerem PRS, aber sehr gesundem Lebensstil (viel Sport, pflanzenreiche Ernährung).

  • Ihr Risiko liegt unter dem Durchschnitt.
  • Empfehlung: Screening nach aktuellem Standard möglich, evtl. genügt auch ein Stuhltest statt sofortige Koloskopie.
3. Der Niedrigrisiko-Typ

Beispiel: Ein 60-jähriger Mann mit niedrigem PRS und gesundem Lebensstil.

  • Sein Darmkrebsrisiko entspricht etwa dem einer 45-Jährigen mit Hochrisiko.
  • Empfehlung: Screening könnte später einsetzen oder Intervalle verlängert werden. In Einzelfällen wäre eine Koloskopie erst mit 60 oder sogar später sinnvoll.
4. Die doppelte Belastung

Beispiel: Eine 48-jährige Frau mit hohem PRS und starkem Rauchen/Übergewicht.

  • Ihr Risiko ist deutlich überdurchschnittlich.
  • Empfehlung: Frühe Koloskopie (noch vor 50), engmaschige Kontrollen und intensive Lebensstilberatung.

Was das für die Praxis bedeutet
  1. Hochrisikogruppen identifizieren
    • Personen mit hohem PRS sollten früher und öfter zur Vorsorge.
    • Familienanamnese + PRS verstärkt die Notwendigkeit zusätzlich.
  2. Niedrigrisikogruppen entlasten
    • Menschen mit niedrigem PRS und gesunden Gewohnheiten könnten Screening später oder seltener wahrnehmen.
    • Das schont Ressourcen und reduziert unnötige Eingriffe.
  3. Lebensstil bleibt Schlüssel
    • Auch bei hoher genetischer Last lässt sich das Risiko um bis zu 50 % senken.
    • Präventionsprogramme sollten Genetik und Lebensstil gemeinsam berücksichtigen.

Fazit

Die Zukunft der Darmkrebsprävention liegt in der personalisieren Risikovorhersage.

  • Früher anfangen: Hochrisikopatient:innen, auch schon mit 40.
  • Später oder seltener: Niedrigrisiko-Personen mit gesundem Lebensstil.
  • Alle profitieren: von Bewegung, gesunder Ernährung und Rauchstopp.

Die Botschaft: Darmkrebs-Screening muss nicht für alle gleich sein. Mit Genetik und Lebensstil als Kompass können wir Vorsorge zielgenauer, effizienter und individueller gestalten.

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